Maria Magdalena bezeugte als Erste die Auferstehung Jesu. Nur interessierte das irgendwie keinen. Sie wurde als Hure diskreditiert.
Brief an eine Verfemte.

Von Petra Bahr, 56, evangelische Regionalbischöfin in Hannover und Mitglied des Deutschen Ethikrats. Artikel erschienen in DER ZEIT, Ostern 2023.

Maria, lässt du mich für ein paar Minuten über deine Schulter schauen, an diesem Ostermorgen? Hinter dir den Kopf in das dunkle Loch stecken, mein Kinn an deinen Rücken gelegt, als wäre ich deine furchtsame kleine Schwester? Der Geruch des Todes schlägt uns entgegen. Du weichst nicht zurück. Vielleicht sind der Brechreiz und die Kälte auf der Haut nach Tagen der Taubheit das erste Gefühl

Glaskunst in der Marien-Grotte Sainte Baume. ©Manfred Hammes

 

Der Kopf in der Grabkammer – das ist mehr als ein Bild für deine Trauer.

Du hast deine Nase wirklich in die Gruft gesteckt. So steht es im Johannesevangelium. Von böser Ahnung angetrieben? Oder um dem Toten auf eine Weise nahe zu bleiben, die mit einem Tabu belegt ist?  Dann entdeckst du, dass der Leichnam fehlt. Ein Diebstahl, der in die Reihe der Unmenschlichkeiten passt, die die letzten Tage bestimmt haben. Was ein Mensch aushalten kann. Vielleicht sind deine Haare über Nacht grau geworden wie die meiner Nachbarin, nachdem ihre Tochter mit dem Fahrrad verunglückt ist. Hältst du dir manchmal die Ohren zu, weil du immer wieder diese Schreie hörst? »Mein Gott, warum hast du mich verlassen?« Du hast bei der Kreuzigung zugesehen, aus der Ferne, heißt es in einem der Evangelien.

Viele sind nahe herangekommen. Diese ausgestellte Foltermethode war Unterhaltung und Abschreckung zugleich, die öffentliche Inszenierung von Ohnmacht und Entmenschlichung, die es mit mehrfachem Methodenwechsel in die heutigen Kriege geschafft hat. Hätte dich jemand erkannt, wäre es auch für dich gefährlich geworden. Nähe zu Unruhestiftern, die Römer zu kurzen Prozessen verleitet. Und Repression kennt schon zu deiner Lebenszeit kein Geschlecht.

Die Freunde Jesu, diese Wetteiferer um seine Gunst, Petrus, Johannes, Andreas, sitzen da schon in ihren Verstecken. Scheinriesen, Maulhelden, Hasenherzen. Wie einsam musst du gewesen sein, nach den Jahren geteilter Brote und Wege. Wenn man sich die Erzählfragmente aus den vier Evangelien zusammenklaubt, bist du die Einzige gewesen, die den ganzen Weg Jesu bis zum abrupten Ende mitgegangen ist. Ist es Liebe gewesen oder Treue bis in den Tod oder einfach nur das Unvermögen, denjenigen loszulassen, der jahrelang Halt und Zentrum gewesen ist?

Plötzlich fährst du zurück und ich stolpere hintenüber.

Eine Szene wie im Film, mit eingebauter Komik. Offenbar siehst du jemanden aus den Augenwinkeln. »Siehst du ihn auch, den Gärtner?« Dann wendest du dich um und siehst durch mich durch, woandershin, und schreist: »Ich habe den Herrn gesehen!« Deine Stimme überschlägt sich. Den Ausruf kenne ich. Paulus erhält mit diesem Bekenntnis die höheren Weihen eines Apostels. Mir ist nie aufgefallen, dass es auch dein Bekenntnis ist. Eine Erfahrung, die des Apostelinnenamtes würdig ist. Was wird aus diesem Amt nicht bis heute alles abgeleitet. Dir wird der Satz nicht helfen. Die alten Freunde werden dir trotzdem nicht glauben. »Geschwätz!«, kommentieren die Jünger in den Evangelien die Nachricht, die du atemlos zu ihnen trägst. Frauen werden zu deiner Zeit als Zeuginnen nicht nur vor Gericht nicht ernst genommen. Die Männer müssen es mit eigenen Augen sehen,
deine reichen ihnen nicht.

In der Jesusbewegung waren Frauen wie Männer in asketischer Lebensgemeinschaft verbunden.

Das gilt längst als sicher. Das Christentum aber nimmt in diesem, in deinem Augenblick mit dem Auferstandenen seinen Lauf. Er wird genau in diesem Moment zum erkannten, zum bekannten und geglaubten Christus. Du bist die erste Zeugin und die erste Missionarin. Die Geschichte des Christentums beginnt weiblich. Für diese Einsicht braucht es keine mutwillig umgestülpte Hermeneutik und keine raffinierten Arbeiten an den heiligen Überlieferungen. Es braucht nur eine Bibel und einen Sinn für Andeutungen und Nebensätze. Aber vielleicht ist diese Einsicht viel beunruhigender, denn so geraten diejenigen in Erklärungsnöte, die auch noch die wenigen Erinnerungsspuren dieser ersten Osterzeugin verwischen. Schon im ersten überlieferten Glaubensbekenntnis der frühen Kirche in ihrer Gründungsphase wird Petrus als erster Zeuge des Auferstandenen hervorgehoben. Selbstredend wirst du in der Geschichte der Kirche nicht in einem Atemzug mit Paulus genannt.

©Wikipedia, Gemälde von Lucas Cranach d.Ä. - Christus und Maria Magdalena

 

Für einen kurzen Moment muss das anders gewesen sein.

Im 19. Jahrhundert fanden Forscher Texte aus den ersten Jahrhunderten, die heute als apokryphe Texte zwar aus guten Gründen nicht Teil des biblischen Kanons sind, aber doch einen guten Eindruck in die Macht- und Deutungskämpfe der frühen Christenheit geben. Ein Evangelium spricht dir den Titel »Lieblingsjüngerin« zu. Dein besonderer Zugang zu Jesus hat offenbar zu Einflussängsten geführt. Glaubt man dem Kirchenklatsch aus dem ersten Jahrhundert, gab es zwischen dir und Petrus eine ausgemachte Rivalität. Da Rivalität nur auf Augenhöhe funktioniert, musst du für eine Weile den Rang einer Gemeindeleiterin gehabt haben, einer Apostelin, einer Missionarin. »Kann es denn sein, dass der Meister ihr Dinge verrät, die er nicht öffentlich macht?«, rumort es. 

Das frühe Christentum ist besonders für gebildete und reiche Frauen attraktiv, nicht nur für Arme und Entrechtete. Das Versprechen auf gleiche Würde in Gottes Augen scheint für eine kurze Weile eine soziale Ordnung denkbar zu machen, in der alles, sogar Gleichberechtigung im Dienst und im Amt, möglich ist. Doch wenn Kränkung und Macht paktieren oder Anerkennung durch die Umwelt überlebenswichtig wird, ist strategisches Verschweigen die erfolgreichste Strategie der Verdrängung. 

Eine andere, an dir bis zur traurigen Vollendung vollzogene Strategie ist die der Entwertung, verbunden mit veritablen Verschwörungstheorien aus dem Untergrund antiklerikaler Geistesströmungen. Du wirst zum düster-sexualisierten Gegenbild der Muttergottes, eine, die sogar Jesus selbst vom Pfad der Tugend abbrachte –
und der führt natürlich in den Zölibat. Hier die Heilige, dort die Hure. 

 

Maria aus Magdala, dein Beiname verrät dich.

Du trägst nicht den eines Mannes oder deiner Familie, sondern den deines Herkunftsortes Magdala. Forscherinnen sehen in dir eine Frau, der auch die Eigenschaften reicher Förderinnen der hellenistischen Gemeinden auf den Leib geschrieben wurden. Eine Unternehmerin? Eine Erbin, die beschließt, lieber das Himmelreich zu erben? 

In der Erinnerung der Kirche endest du als Frau, der Jesus gleich sieben böse Geister austreiben musste. Nicht als Apostelin, sondern als »Sünderin«, als das Pin-up-Girl gehst du in die Bildergalerie des christlichen Abendlandes ein. Eine ganze Christenheit lang haben dir Maler und Prediger, Schriftsteller und Bibelausleger unter den Rock geguckt – wenn sie dir überhaupt einen angezogen haben. Oft genug verbergen die rot gelockten Haare deinen Körper nur notdürftig. Der pornografische Blick ist die geschickteste Form der Herabwürdigung und des steten Glaubwürdigkeitsentzugs. Das ist bis heute so. 

Als »Sünderin« darfst du für eine kurze Zeit in den Osterpredigten Gast sein, ein Schatten deiner selbst, eine, bei der immer mit großer Geste betont werden muss, wie unglaublich es ist, dass Christus »so einer wie dir« erscheint. Das apostolische Zeugnis ist den Männern vorbehalten, der »ungläubige Thomas« kommt besser weg als du. Man muss die Welt nicht in Menschengruppen aufteilen, die Kirche schon gar nicht. Im Zweifel willst du gar nicht als Geschlechtsgenossin sprechen, sondern als du selbst, als die Einzigartige, der Gott sich gezeigt hat wider den Tod. Aber immer noch gilt die »Feminisierung« der Kirche als Synonym für Relevanzverlust, Bildungsarmut und institutionelle Sklerose. Dabei fällt mir der Glaube an die Auferweckung des Gottesmenschen nicht leichter, weil eine Frau ihn zuerst in die Welt getragen hat.

 

 

Juni-Duft: Lavendelfeld in der Provence. ©Rose Schweizer

 

Ich habe kein Bild, keine Fantasie, schon gar keine Lehre für dieses Ereignis.

Nur einen Riss im Papier, eine Lücke, die radikale Unterbrechung des Erwartbaren. Die Passion kennt viele Bilder. Von den Altarbildern bis zu den Bildern aus den Kriegsgebieten der Welt ist es nur ein Augenblick. Für die Karfreitage braucht es gar keine Fantasie. Nur einen wachen Blick. Auf dem Weg zum Auferstehungsglauben stecke ich dagegen meistens im Karsamstag fest, jenem Tag vor Ostern, wo das Sehnen sich über die Ungläubigkeit legt, die große Trauer und die viel zu kleine Erwartung. Vom »Was wäre, wenn« der Auferstehung her die Welt zu betrachten – und daraus eine Lebensform zu entwickeln – gelingt mir viel zu selten. Ich leih mir deshalb was von deiner Gewissheit. 

Allerdings würde ich es verstehen, wenn du mir die kalte Schulter zeigst, nach dem, was die Christenheit aus dir gemacht hat. Ein Bildersturm müsste in die Köpfe fahren. Aber bitte wende dich doch noch mal kurz um. Sieh mal. Hier sitzen Frauen allen Alters in den Bänken der Gotteshäuser, in Wartehäuschen und in schwarzen Ledersesseln, in Cafés, lachen, flüstern und rufen:
»Wir haben den Auferstandenen gesehen!«

 

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